„kollektivität ist nicht bloße negation all dessen, was staat und kapital sind, sondern die gesellschaftliche organisation freier menschen, wie sie hier und jetzt – überall wo gekämpft wird – schon möglich ist.“
(aus der Hungerstreikerklärung der Gefangenen aus der RAF, Dezember 1984)
Kollektivität heisst für eine linksradikale Perspektive: gemeinsame, freie und gleichberechtigte Organisierung gesellschaftlichen Lebens und Handelns. Sie bildet sowohl grundlegende Struktur als auch Ziel jeden Kampfes um Befreiung. Sie ist Teil der Perspektive von der Überwindung des kapitalistischen Normalzustands. Kollektivität und Solidarität sind Gegenentwürfe zum individualisierten Überlebenskampf jede_r gegen jede_n und dem Hetzen nach dem persönlichen Erfolg. Sie sind das grundlegende Gegenteil zum kapitalistischen Grundprinzip von Konkurrenz und brutaler Machtdurchsetzung.
Das Entwickeln kollektiver Strukturen an allen möglichen gesellschaftlichen Orten, in der WG, am Arbeitsplatz, Schule oder Uni schafft den Raum für Verbindlichkeit untereinander und das Bewusstsein gegenseitiger Verantwortung und letztlich zumindest eine Ahnung von dem, was alles erkämpft werden könnte und für was es sich zu kämpfen lohnt.
Für linksradikale politische Organisierungen stellen kollektive Strukturen einen grundlegenden Ausgangspunkt jeder Praxis dar. Der Anspruch an Aktivist_innen bei Konfrontationen mit Polizei und Justiz die Aussage zu verweigern, kann nur erfüllt werden, wenn Menschen sich in Gruppen und Strukturen aufgehoben fühlen und es einen offenen und verbindlichen Umgang miteinander gibt. Gegenseitige politische und persönliche Verantwortung und Solidarität kann sich nur in gleichberechtigten kollektiven Beziehungen entwickeln. Nur mit diesem Bewusstsein und in einer kollektiven Bewegungsrealität ist eine konsequente und offensive Aussageverweigerung möglich.
Festnahmen und Vorladungen dienen dem Repressionsapparat schließlich auch dazu, Menschen aus ihren Zusammenhängen heraus zu reißen und zu isolieren. Sie sollen individualisiert werden, um sie angreifbar, verletzlich und erpressbar zu machen, damit sie im Sinne des Systems funktionieren und Aussagen machen.
2005 waren in Magdeburg mehrere Menschen mit dem staatlichen Zwang als Zeug_innen Aussagen machen zu müssen konfrontiert, nachdem es aufgrund einiger militanter Aktionen zu einem 129a Prozess kam. Die Angeklagten Marco H. und Daniel W. wurden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Im Revisionsverfahren gegen Daniel waren 11 Menschen als Zeug_innen vorgeladen. Alle verweigerten kollektiv die Aussage.
„Die Entscheidung, keine Aussage zu machen, fiel bzw. fällt niemandem leicht, denn einige haben Kinder, andere haben Angst ihren Arbeitsplatz zu verlieren oder ihr Abi nicht machen zu können. Als erstes ist die Auseinandersetzung darum, keine Aussage zu machen eine individuelle gewesen. Trotzdem wurde es geschafft, die Auseinandersetzung und Diskussion auf eine kollektive Ebene zu heben, in der jeder seine individuellen Ängste einbringen konnte und eben auch die nötige Unterstützung bekommen konnte. Gerade weil die gemeinsame Entscheidung, keine Aussage zu machen, in einem Kollektiv getroffen wurde, ist der einzelne nicht untergegangen. […] Letztendlich hat die gemeinsame Konfrontation mit der Thematik Aussageverweigerung bewirkt, über die eigenen Ängste zu sprechen und sich gegenseitig unterstützen zu können. Und gerade das gibt die Kraft und Solidarität, die Zeit, möglicherweise auch im Knast, durchzustehen. Denn es nimmt einem vor allem die Angst, wenn es klar ist, dass es Leute gibt, die Dinge in die Hand nehmen, wie Wohnung zahlen, sich um den Hund zu kümmern usw. und mensch nicht alleine ist mit den Folgen, die diese Entscheidung mit sich bringen kann.“
(Redebeitrag aus einer AG der Frauengruppe Magdeburg)
Durch eben dieses kollektive Handeln ist das Kalkül des Justizapparates in Magedeburg nicht aufgegangen. Alle als Zeug_innen Geladenen haben konsequent die Aussage verweigert, obwohl gegen 2 Personen Beugehaft verhängt wurde.
Angesichts eines von oben nach unten durchgedrückten gesellschaftlichen und ökonomischen Projekts, das einzig auf Individualisierung und Isolation, Entsolidarisierung und Ausgrenzung basiert, ist das Entwickeln kollektiver Strukturen und das Wiederentdecken eines kollektiven Bewusstseins auch in linken Strukturen brennend aktuell.
Kollektivität und emanzipatorische Solidarität sind grundlegende Möglichkeiten und Notwendigkeiten für die Entwicklung von Kämpfen und gleichzeitig eine andauernde Bedrohung für das bestehende System. Aussageverweigerung ist eine Praxis, die auf kollektivem Bewusstsein basiert. Eine Praxis gegenseitigem Vertrauens und gemeinsamer politischer Bestimmung. Wo Aussagen gemacht worden sind, fehlte es oft nicht an individuellem Mut oder persönlicher Stärke, sondern an politischen und persönlichen Strukturen, die in der Lage sind, die Bedrohungen aufzufangen und Menschen sowie das Vertrauen in eine gemeinsame politische Perspektive zu stärken. Der Umgang mit Vorladungen und einer vermeintlichen Denunziationspflicht ist weder eine persönliche Entscheidung der Betroffenen, noch kann sie einzig taktisch bestimmt sein. Der Umgang mit Repression und Aussageverweigerung muss politisch bestimmt und kollektiv sein.